Stolpersteinbiografien Eimsbüttel

Hier finden Sie Biografien über die Familien Freundlich und Meyberg,
bei beiden bestehen auch verwandtschaftliche Beziehungen zu Wandsbeker Familien.

Familie Freundlich

Irma Freundlich, geb. Beith, geb. am 20.6.1896 in Berlin, deportiert am 11.7.1942 nach Auschwitz
Paul Freundlich, geb. am 6.8.1879 in Gnesen, deportiert am 11.7.1942 nach Auschwitz

Fruchtallee 27-29/Ecke Vereinsstraße

Im Dezember 1909 unterschrieb der 30-jährige Apotheker Paul Freundlich im Beisein seines zukünftigen Schwiegervaters Philipp Simon den Kaufvertrag für zwei Grundstücke in Eimsbüttel. Damit gelangte er in den Besitz der seit 1879 in einem Neubau an der Fruchtallee, Ecke Vereinsstraße bestehenden Hansa-Apotheke. Ende März 1910 erfolgte seine Aufnahme in die Matrikel der Apotheker. Am 10. April 1910 wurden Apotheke und Gebäudegrundstücke von den  beiden Vorbesitzern, den Apothekern und Firmeninhabern Carstens und Hoth, an den neuen Inhaber übergeben.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte dieser wohl nicht, dass die Übereignung des Betriebes an ihn – den ersten jüdischen Inhaber – Verdrängungsversuche vonseiten der Nachbarn, Mitbewerber und Behörden auslösen würde.

Paul Freundlich wurde am 6. August1879 als Sohn von Moritz Freundlich und Dorothea Sara, geb. Lewinsohn, in Gnesen in der Provinz Posen geboren, hatte in Breslau studiert, seine prakti­sche Ausbildung in Frankfurt am Main absolviert und war im April 1909 nach Hamburg gezogen. Am 18. Februar 1910 heiratete er die jüdische Ham­burgerin Erna Betty Simon (geb. 1887). In den folgenden Jahren wurden drei Töchter geboren: Ingeborg (geb. 1911), Hildegard (geb. 1913) und Gerda (geb. 1914).

Im Ersten Weltkrieg diente Paul Freundlich als Offizier in einem belgischen Frontlaza­rett. Er wurde verwun­det und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. 1915 erwarb die Familie die hamburgische Staatsangehörigkeit.

Die Wohnung der Familie lag in den beiden oberen Stockwerken der Fruchtallee 27 und war  durch einen Eingang neben der Apotheke zu erreichen. Im Erdgeschoss befand sich die Apotheke mit dem Laboratorium (Offizin), der Materialkammer und einigen Nebenräumen. Nach knapp zehn Jahren wurde Paul Freundlichs Ehe geschieden. Seine Frau hatte die Familie verlassen und war zum katholischen Glauben konvertiert. 1921 ging Paul Freundlich eine zweite Ehe mit Irma Beith ein. Ihr Vater, Benny Beith, stammte aus einer Altonaer Familie, lebte und arbeitete aber schon jahrzehntelang als Hausmakler in Wandsbek, wo er auch viele Jahre das Amt des Vorstehers der Jüdischen Gemeinde Wandsbek innehatte. Ihre Mutter, Selma, geb. Auerbach, kam aus der seit dem frühen 19. Jahrhundert in Wandsbek ansässigen Familie Hirsch (s.dort.
Irma Freundlich, die in einem religiösen Haushalt aufgewachsen war, führte den Eimsbütteler Familienhaushalt nun koscher. Unterstützt wurde sie von einer Köchin, einem Dienstmädchen und einem Kinderfräulein. 1922 bekamen die Eheleute noch die Tochter Erika, die mit den drei Töchtern aus erster Ehe aufwuchs­. Deren Mutter wurde innerhalb der Familie kaum mehr erwähnt, so dass Erika erst später von ihr erfuhr, möglicherweise erst 1931, als jene starb.

Paul Freundlichs jüngerer Bruder Hei­mann Freundlich wohnte mit seiner Frau Meta in der Eimsbütteler Chaussee 15 und arbeitete als Klempner und Mechani­ker in seiner Werkstatt in der Agathenstraße 7. Bei Bedarf verrichtete er handwerkliche Arbeiten im Hause seines Bruders.

Die Kunden in der Nachbarschaft hatten Paul Freundlichs Apotheke von Anfang an misstrauisch beäugt. Konnte man den Medikamenten trauen, die ein jüdischer Apotheker herstellte? Musste man nicht befürchten, vergiftet zu werden? Unwissenheit gepaart mit antisemitischen Vorurteilen führte zu einem Rückgang der Umsätze. Erst als der Pastor der Christuskirche, die direkt gegenüber der Apotheke lag, das Problem während einer Predigt ansprach und Paul Freundlich als guten, verantwortungsvollen Charakter bezeichnete, und die Gemeinde aufforderte, ihre Aversionen gegen ihn aufzugeben, verbesserte sich die Lage.

Die ersten Anschuldigungen gegen Paul Freundlich, die aktenkundig wurden, datieren aus dem November 1915. Der Kunde Buhlert reklamierte schlecht klebendes Leukoplast. Allerdings war dem Pflaster von der Herstellerfirma Beiersdorf vorsorglich ein Zettel beigelegt mit der Aufschrift „Kriegsproduktion“, so dass mit Mängeln zu rechnen war. Paul Freundlich hatte sich wohl anfangs gesträubt, das Leukoplast zurückzunehmen, aber dem Kunden den Kaufpreis schließlich erstattet. Trotzdem gab Buhlert keine Ruhe und wandte sich zusätzlich an das Medizinalamt, die Apothekenaufsicht. Offenbar sah er üble Machenschaften jüdischer Pharmakologen am Werk, wie sich aus seiner Wortwahl unschwer ableiten lässt: „Diesem Treiben des Herrn Freundlich und der Firma Beiersdorf & Co., Inhaber Dr. Troplowitz und Dr. Mankiewicz, muss Einhalt geboten werden, weshalb ich den Vorfall hiermit zur Kenntnis bringe.“

Das Medizinalamt erbat eine Stellungnahme der Firma Beiersdorf, die sich im Dezember 1915 äußerte: „Bald nach Beginn des Krieges hat sich eine empfindliche Knappheit an Kautschuk fühlbar gemacht, trotzdem war es uns ... immer noch möglich, etwa bis Mitte 1915 unsere Kautschuk-Pflaster in der alten gewohnten Güte zu liefern. Erst als unsere Vorräte ... von der Reichsstelle enteignet und uns von Monat zu Monat geringere Mengen freigegeben wurden, mussten wir der Verwendung von Ersatzstoffen näher treten. .... Um die Änderung in der Zusammensetzung zum Ausdruck zu bringen, werden die Pflaster seitdem ausdrücklich als Kriegszubereitungen bezeichnet. ... Herr Buhlert mag vielleicht ein Pflaster bekommen haben, dass durch irgendeinen Umstand etwas älter geworden ist, als es unter den heutigen Verhältnissen hätte werden dürfen, und infolgedessen in seiner Klebkraft nachgelassen hat. Ein Schaden ist ihm daraus aber weder mittelbar noch unmittelbar erwachsen, nachdem ihm in der Apotheke der Kaufpreis wieder zurückerstattet wurde.  Ergebenst P. Beiersdorf“.

Im April 1921 veröffentlichte das Hamburger Fremdenblatt einen anonymen Leserbrief unter dem Titel „Eimsbüttels Apothekenelend“. Ein Kunde aus der Margarethenstraße hatte den Nachtdienst der Hansa-Apotheke aufgesucht. „Hier angelangt, musste ich feststellen, dass besagtes Haus in tiefstes Dunkel gehüllt dalag. Mehrmaliges Klingeln, niemand öffnete.“  Schließlich habe er sein Medikament in der Apotheke Emilienstraße erhalten. „Kommentar überflüssig. Ein Eimsbütteler“. In einem zweiten, wiederum anonymen Leserbrief behauptete derselbe Verfasser, sogar vorher in der Hansa-Apotheke angerufen zu haben.

Der Vorfall rief das Gesundheitsamt Hamburg auf den Plan, das eine Stellungnahme von Paul Freundlich forderte. Dieser legte dar, es handele sich um „erfundene gehässige Anwürfe (...) und es den Einsendern lediglich darauf ankam mich in den Augen des Arzneikaufenden Publikums zu schädigen. Der Nachtdienst in meiner Apotheke wird in vorschriftsmäßiger Weise gehandhabt.“

Das Gesundheitsamt erwog wohl auch eine Befragung des Anonymus, denn die Redaktion des Hamburger Fremdenblattes teilte der Behörde den Namen Hans Lüllemann mit der Auflage mit, ihn nicht weiterzugeben.

Im Sommer desselben Jahres wurde Paul Freundlich eine Strafe von 100 Reichsmark (RM) angedroht. Angeblich hatte er anlässlich einer Reise die Apotheke ohne Vertreter, nur mit einem Lehrling und einem Apotheker, der nicht gemeldet war, zurückgelassen. Paul Freundlich bestritt eine längere Abwesenheit. Er habe lediglich seine Kinder in Segeberg besucht und sei alle drei Tage zurückgekehrt. Diese Darstellung wurde von der Aufsichtsbehörde als unglaubwürdig zurückgewiesen.

Im Juli 1927 beschwerte sich wiederum ein Kunde, diesmal ging es um ein Medikament. Das Gesundheitsamt drohte Paul Freundlich nun mit strafrechtlichen Konsequenzen. In dem Schriftstück hieß es: „Gelegentlich der Beschwerde des Herrn Blumenthal ist festgestellt, dass die angefertigte Verordnung nicht mit einwandfreiem bzw. vorschriftsmäßigem Sir. flor. Rhoeados hergestellt worden ist.“ Der Angeschuldigte erwiderte, dass die Verordnung zurzeit der Vertretung durch den Apotheker Wollenberg erfolgt sei.

Im September meldete Paul Freundlich einen Einbruch in der Apotheke, bei dem ein Gefäß mit 1 Gramm Heroin und ein Gefäß mit ca. 4 Gramm Heroin-Ersatz gestohlen worden war.

1931 ging es um angeblichen unlauteren Wettbewerb. Der Hamburger Apotheker-Verein, die Standesvertretung der Apotheker, wandte sich an die Wohlfahrtsbehörde Hamburg  und drohte damit, ein ehrengerichtliches Verfahren gegen den Eimsbütteler Apotheker einzuleiten. Freundlich habe durch Einverständnis mit dem Arzt Herrn Bachrach in unlauterer Weise unter Ausschaltung der benachbarten Apotheken Lieferungen auf Wohlfahrtsanordnungen des genannten Arztes ausgeführt. Er habe dem Arzt eine Auswahl verschiedener Medikamente in seine Wohnung auf Lager geschickt und der Arzt habe diese an die Patienten direkt verabfolgt. Die Verordnungen darüber habe Dr. Bachrach dann dem Apotheker Freundlich zugestellt und dadurch die benachbarten Apotheken von der Belieferung ausgeschlossen.

Der Arzt Bachrach erklärte gegenüber der Wohlfahrtsbehörde, dass auf diese Weise nur während der vier Monate andauernden Grippe-Epidemie verfahren worden sei. Paul Freundlich versicherte, böse Gedanken seien ihm nicht gekommen. Allerdings räumte er ein, sehr unklug gehandelt und gegen die gesetzlichen Bestimmungen verstoßen zu haben.

Der Präses der Wohlfahrtsbehörde, Senator Martini, erwog, den Vertrag mit Bachrach zu kündigen. Freundlichs Apothekerkollegen nutzten den Vorfall, um weiter gegen ihn vorzugehen. Der Oberapotheker Menhorn bat, „bei der Polizeibehörde den Antrag zu stellen, den Apotheker Freundlich wegen Zuwiderhandlung  gegen die Bestimmungen ... mit der Höchstrafe von 150 RM zu belegen.“ Das Gesundheitsamt schloss sich der Forderung an und teilte dies der Polizeibehörde mit. Doch die Wohlfahrtsbehörde sprach die Angeschuldigten von allen Vorwürfen frei, indem sie  ausführte: „Die Rezepte der Hansa-Apotheke lassen nicht erkennen, dass Dr. Freundlich und Dr. Bachrach gemeinsame Sache gemacht haben.“

Der Apotheker-Verein mochte sich diesem Votum nicht anschließen. Er ließ Paul Freundlich durch einen Kommissar vernehmen und vor das vereinseigene Gau-Gericht stellen. Am 7. August 1931 sprach es Paul Freundlich seine schärfste Missbilligung aus wegen Schädigung des Standesansehens und  wirtschaftlicher Benachteiligung der benachbarten Fachgenossen. Da Freundlich ein geldlicher Vorteil von geschätzten 400 RM erwachsen sei, wurde er zu einer Strafe von 300 RM verurteilt.

Die Jahre 1934 bis 1936 verbrachte Paul Freundlich nicht zuletzt damit, Angriffe nationalsozialistisch inspirierter Standesgenossen und Behörden abzuwehren, die das Ziel hatten, die Hansa-Apotheke zu schließen. Die Grundlage bildeten politisch motivierte Bestrebungen, mit denen das Ungleichgewicht zwischen der begrenzten Anzahl von Konzessionen und der hohen Zahl von approbierten Bewerbern ausgeglichen werden sollte. Zudem sollten in Hamburg der „arische“ Apothekernachwuchs bzw. „junge Parteigenossen“ vorrangig versorgt werden. In dieser Situation nahm die Gesundheits- und Fürsorgebehörde die 19 jüdischen Apotheker ins Visier, indem nun von „Verjudung“ des Apothekerstandes die Rede war, was eine Bevorzugung von NSDAP-Mitgliedern erforderlich mache. (Insgesamt gab es in 1933 Hamburg 180 Apotheken, d.h. der Anteil der jüdischen Apothekeninhaber betrug etwa 11 Prozent, während er in Berlin mehr als 25  Prozent ausmachte.) Die Maßnahmen gegen Paul Freundlich glichen einem Kesseltreiben. Den Auftakt bildete eine Revision, also eine turnusmäßig vorgenommene  Kontrolle der Apotheke, am 5. März 1934. Sie wurde durch den Oberapotheker Max Burger, Referent für das Apothekenwesen, und den vereidigten Apothekenrevisor Hans Rehmke durchgeführt. Die Revisoren monierten Unordnung, Unsauberkeit und allgemeine Verstöße und forderten, dass bis zum 8. März 1934, also bereits drei Tage später, ein Verwalter einzusetzen sei. Im Revisionsprotokoll waren die Beanstandungen allerdings nicht aufgeführt.

Dessen ungeachtet wies die Gesundheits- und Fürsorgebehörde Paul Freundlich an, den Apothekenbetrieb unverzüglich bis auf weiteres einzustellen, andernfalls drohe die  zwangsweise Schließung. Das entsprach de facto der Entziehung der Konzession.

Freundlichs Ehefrau Irma meldete sich telefonisch bei der Gesundheits- und Fürsorgebehörde  und teilte mit, dass der Apotheker Adolf Luis Kuhlemann als Verwalter vorgeschlagen werde. Der Verwaltervertrag solle sofort nachgeliefert werden. Sie bat um fernmündliche Mitteilung, ob damit die Schließung der Apotheke abgewendet sei. Kuhlemann war auch während der Revision zugegen gewesen.

Mit seinem Vorschlag ging Paul Freundlich auf die Behördenforderung ein. Wenn er allerdings gehofft hatte, die Lage würde sich nun zu seinen Gunsten entspannen, so sah er sich getäuscht. Seine Widersacher suchten weiter nach Beweismaterial gegen ihn. Die Behörde strengte eine Untersuchung von Aspirin-Tabletten an, in der Hoffnung, dem Apotheker eine Fälschung nachweisen zu können. Sie wandte sich an die Herstellerfirma IG Farbenindustrie AG in Hamburg mit der Bitte, die Tabletten zu untersuchen. Mit dem gleichen Auftrag wurde das Hygienische Staatsinstitut betraut.

Die IG Farben antwortete mit deutschem Gruß und meldete: „Die Untersuchung deutet darauf hin, dass es sich um Aspirin Tabletten handelt ... Sichere Anzeichen einer Fälschung konnten nicht festgestellt werden.“

Die Rechtsanwälte Paul Freundlichs, M. Eichholz und H. Ruscheweyh, hatten inzwischen eine sofortige Klage vor dem Hamburgischen Verwaltungsgericht gegen den Hamburger Senat eingereicht. Sie verlangten, dass die Sperrung der Apotheke aufgehoben werde. „Ohne ein sachgemäßes Protokoll, ohne mehrfache Abmahnungen dürfte eine so einschneidende Maßnahme wie die Entziehung der Befugnis zum persönlichen Betriebe einer Apotheke kaum zu treffen sein.“ Weiter heißt es, dass Paul Freundlich „seit 24 Jahren seinen Beruf ausgeübt (hat), ohne dass jemals stichhaltige Einwendungen gegen seine berufliche Tätigkeit erhoben worden sind. Umso weniger durfte dann aber mit der Sperrung der Apotheke gegen ihn vorgegangen werden. Die rechtswidrige Sperrung ... macht den Hamburgischen Staat schadensersatzpflichtig.“ Das Vorgehen gegen den Apotheker sei ein „klarer Missbrauch des Ermessens ... ohne dass ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich gegen die Vorwürfe zu wehren. Ihm sind solche Vorwürfe bis zum heutigen Tage nicht mitgeteilt worden. Dass eine alte Privatapotheke ... nicht technisch so vollkommen sein kann, wie es Staatsapotheken oder ausnahmsweise neu eingerichtete Privatapotheken sind, liegt auf der Hand. Wie schwer der Kläger unter der Art der Behandlung durch Herrn Apotheker Burger und die Sperrung der Apotheke gelitten hat, zeigt das ärztliche Attest.“

Es war am 10. März 1934 vom Mediziner Hellmuth Lorch ausgestellt worden, „infolge schweren Nervenzusammenbruchs, der auf eine geistige und körperliche Überanstrengung zurückzuführen ist, (ist der Patient) derzeit äußerst schonungsbedürftig und muss sich vor allen Aufregungen hüten.“ Ein weiterer hinzugezogener Arzt, Conitzer, bescheinigte am 12. März 1934: „Paul Freundlich, den ich seit mehr als 20 Jahren ärztlich betreue, aber nie an einer ernstlichen Krankheit behandelt habe, (ist) zurzeit infolge der Schließung seiner Apotheke und der  voraufgegangenen Aufregungen in einer ganz desolaten körperlichen und seelischen  Verfassung...“

Ferner mahnten die Rechtsanwälte bei der Behörde an, ihnen die Vorwürfe des Herrn Apotheker Burger greifbar zu machen, um sie „restlos (zu) widerlegen“. Auf Anordnung der Gesundheitsbehörde sollte die Apotheke aber weiterhin geschlossen bleiben.

Doch Paul Freundlich eröffnete die Apotheke wieder „in Gemäßheit der Rechtslage“, wie seine Anwälte mitteilten. Am Abend hatte Apotheker Burger einen Polizeihauptwachtmeister in die Apotheke geschickt, und nachfragen lassen, ob Freundlich die Erlaubnis der Gesundheitsbehörde zur Wiedereröffnung habe. Dieser hatte den Polizisten darauf hingewiesen, dass durch die Klage die Sperrung der Apotheke aufgehoben wäre. Doch Burger gab sich damit nicht zufrieden, meldete sich telefonisch und verlangte von Paul Freundlich die Schließung der Apotheke. Ferner soll er erklärt haben, dass er alle amtlichen Stellen in Bewegung setzen werde, um die Schließung durchzusetzen. Die Anwälte betonten noch einmal, „dass kein einziges der untersuchten Arzneimittel zu irgendwelchen Beanstandungen Veranlassung gegeben hat. ... über die Art der Untersuchung durch Herrn Burger (hat man) sehr wenig Erfreuliches gehört. Herr Burger scheint noch nicht einmal die vorgeschriebenen Untersuchungsmethoden zu kennen.“

Wenige Tage später schrieb die Gesundheitsbehörde dem Hamburgischen Verwaltungsgericht, dass Freundlich den Hamburgischen Staat verklagt habe, die Klage jedoch kostenpflichtig abzuweisen sei. Die Rechtsanwälte wandten sich nun an Bürgermeister Krogmann, da die Schließung nicht von der Behörde erlassen werden könne, nur der Senat könne eine derartige Entscheidung fällen. Burger sei einseitig voreingenommen. Ausdrücke wie „Saustall“ und „Dreckbude“ kehrten bei ihm immer wieder. In den zahlreichen Revisionen der vergangenen Jahre sei überhaupt nichts gerügt worden.

Auch Irma Freundlich suchte weiterhin Gerechtigkeit und bat den Reichsstatthalter Kaufmann um eine persönliche Unterredung. „Es handelt sich um die Schließung unserer Apotheke.“  Ob sie eine Antwort erhielt, ist nicht dokumentiert. Der Eingang ihres Briefes fiel mit dem Datum der Urteilsverkündung zusammen. Das Hamburgische Verwaltungsgericht wies Paul Freundlichs Klage ab. Damit war die Entziehung der Konzession rechtskräftig geworden.

Inzwischen hatte Burger noch weitere Zeugen aufgetan, die seine Meinung über die Zustände in der Hansa-Apotheke bestätigen sollten und es auch taten, wie Wilhelm Dörnemann, der Vertrauensapotheker der AOK, und zwei Assistenten, die bei Paul Freundlich gearbeitet hatten. In einem Bericht der Gesundheitsbehörde, vermutlich von Burger verfasst, betonte er seine Verantwortung für die „Volksgesundheit“. „Wenn diese Revisoren (früher) nicht den Maßstab anlegten, wie es jetzt die nationalsozialistische Regierung tun muss, so lag darin eine politische Einstellung, denn bislang bestanden die Revisoren nur aus (Apotheken)Besitzern und diese mussten sich gerade einem Juden gegenüber eine sehr starke Zurückhaltung auferlegen.“ Das sollte wohl heißen, dass die NS-Regierung gegen Juden besonders hart vorging, um die „politische Einstellung“ während der  Weimarer Republik zu korrigieren.

Auf Grundlage des Urteils vom Verwaltungsgericht wurde durch den Senator für Innere Verwaltung, Richter, mitgeteilt: „Paul Freundlich wird das Recht zur Führung einer Apotheke  entzogen. Es wird ihm anheimgestellt, einen Verwalter  ... namhaft zu machen. Bis zur Einsetzung des Verwalters bleibt die Apotheke geschlossen.“

Mitte Mai 1934 schien sich die Lage beruhigt zu haben. Paul Freundlich hatte den Verwalter Wilhelm Bendhack eingesetzt, und die Nachrevision ergab, dass sich die Apotheke „in sehr gutem vorschriftsmäßigen Zustand befindet“.  Allerdings erhielt der Apotheker Bendhack keine Genehmigung als Verwalter.

Zehn Tage später kam ein Verwaltervertrag zwischen Freundlich und dem angestellten Apotheker Rudolf Rose „zur Führung der Apotheke“ zustande, übrigens „ein junger Parteigenosse“, und die Apotheke nahm den Betrieb wieder auf. Doch nicht für lange, denn wenige Tage später wurde, wie Freundlichs Rechtsanwälte feststellten, „entgegen geltendem Recht (von) Hauptwachtmeister Krefft von der Wache 15 die Schließung der Apotheke im Auftrag der Gesundheitsbehörde durchgeführt.“

Nachdem auch die Berufung gegen das Urteil vom 28. Mai 1934 abgelehnt worden war, schien die Lage aussichtslos. Doch Paul Freundlich gab nicht auf.

Im November 1934 beantragte er, einen Anbau errichten zu lassen. „Im neuen Anbau soll die Offizin untergebracht werden, während die alte Offizin zur Materialkammer wird.“ (Als Offizin bezeichnet man in einer Apotheke den Arbeitsraum, in dem die Arzneimittel hergestellt werden.) Er bat um baldige Genehmigung, um den Bau vor Beginn des Frostes fertigstellen zu können. Ferner machte er die Behörde darauf aufmerksam, dass eine Arbeitsbeschaffung im Werte von 18.000 RM in Frage komme. Hinter dem Bauvorhaben stand in erster Linie die Hoffnung des Apothekers, seine Konzession zurückzuerhalten.

Tatsächlich gab die Behörde grünes Licht und genehmigte den Umbau, der von der Firma der Architekten Hans und Oskar Gerson durchgeführt wurde. Während der Umbaumaßnahmen war die Apotheke drei Monate lang geschlossen. Ende Februar 1935 konnte die Offizin in den Neubau verlegt werden. Die Tochter Erika schilderte das Ergebnis als sehr modern und ansehnlich, mit einer schönen Fassade aus hellgrünen Wandfliesen.

Paul Freundlich war es nur noch 1935/36 vergönnt, in der Apotheke tätig zu sein, allerdings unter einem Verwalter. Die selbstständige Leitung war dem langjährigen Inhaber nicht mehr gestattet, er hätte sie ohnehin nicht mehr lange ausüben können. Denn im März 1936 erließ das Reichsinnenministerium eine Verordnung, nach der jüdische Apotheker zur Verpachtung ihres Betriebes verpflichtet wurden, was einem Berufsverbot gleichkam. Von einem feindlichen Umfeld zermürbt und gesundheitlich angeschlagen, sah sich Paul Freundlich gezwungen, Lebenswerk und Existenzgrundlage – in besseren Zeiten hatte er bis zu drei Mitarbeiter beschäftigt – an einen Konkurrenten abzutreten. Mit Vertrag vom 6. August 1936 verkaufte er die Apotheke samt Inventar, Warenbestand und Grundstück für 165.000 RM an den Apotheker Carl Hattenkerl aus Braunschweig. Die Verkaufsverhandlung fand in Wandsbek, im Hause des Schwiegervaters von Paul Freundlich statt. Die Apotheke war ab 1. Oktober 1936 an den Käufer zu übergeben, die Wohnung musste bis zum 2. Januar 1937 geräumt sein.

Dem neuen Inhaber bescherte die Apotheke glänzende Einnahmen. Laut Finanzamt St. Pauli betrugen die Umsätze 1938 rund 85.000 RM, 1939 rund 98.600 RM und 1940 rund 105.124 RM. Die Umsätze unter der Leitung von Paul Freundlich hatten sich 1933 auf ca. 68.000 RM, 1934 auf rund 50.000 RM und 1935 auf rund 70.000 RM belaufen.

1941 wurde die Apotheke weiterverkauft und 1943 infolge von Kriegszerstörungen an die Ecke Fruchtallee/Ecke Belleallianceplatz verlegt. Sie kehrte nicht mehr an ihren früheren Standort zurück – ebensowenig wie ihr früherer Inhaber.

Dieser hatte mit seiner Ehefrau und der jüngsten Tochter Erika bereits im November 1936 eine Wohnung in der Oderfelderstraße 40 II. bezogen, wo die Eheleute Freundlich bis zur Deportation lebten.

 

Die drei Töchter aus Freundlichs erster Ehe waren Schüle­rinnen der Loewenberg-Realschule und wurden Ende der 1920er Jahre in der Hansa-Oberrealschule (heute Helene-Lange-Schule) angemeldet, wo sie Abitur machten.

Die Tochter Ingeborg war zum Studium nach Frankfurt am Main gezogen, wo sie 1934 die Staatsprüfung zur Apothekerin ablegte. Da jüdischen Studenten von der Leitung nahegelegt worden war, die Universität zu verlassen, wanderte Ingeborg in die Schweiz aus, um ihre Ausbildung abzuschließen. Später emigrierte sie in die USA, wo sie ihren Beruf nicht mehr ausübte. Sie lebte mit ihrem Ehemann in New York.

Die Tochter Hildegard hatte 1932 an der Universität in Frankfurt am Main ein Philologiestudium begonnen, Deutschland unmittelbar nach dem Machtantritt Hitlers verlassen und war nach Paris emigriert, wo sie ihr Studium an der Sorbonne beendete. 1940 heiratete sie den deutschen Schriftsteller Ernest L. Rothschild, mit dem sie 1941 in die USA übersiedelte, wo sie als Lehrerin und Kindergärtnerin tätig war.

Gerda, die dritte Tochter, legte 1933 das Abitur ab, konnte jedoch nicht mehr Chemie studieren, um eventuell Apothekerin zu werden. Stattdessen besuchte sie zwei Jahre lang die Staatliche Schule für Frauenberufe in Hamburg, wo sie Mode- und Gebrauchsgraphik erlernte. 1935 setzte sie die Ausbildung in Berlin fort und arbeitete gleichzeitig als Volontärin im Reklamemodeatelier Robinstock & Wagner, wo sie praktische Erfahrungen sammeln konnte. Die Firma bot ihr eine Stellung als erste Zeichnerin an. Da sie in Deutschland für sich jedoch keine Zukunft mehr sah, übersiedelte sie 1936 auf Drängen des Vaters in die Schweiz.

Die jüngste Tochter Erika war oft von Nachbarskindern gemieden oder beschimpft worden, besonders nach dem April-Boykott 1933, als man das Geschäft mit der Aufschrift „Jude“ beschmiert hatte, und ihr die Kinder nun voller Stolz ihre HJ-Uniformen präsentierten.  Seit April 1929 hatte Erika die Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße besucht und 1933 die Mittelschulreife erlangt. Danach wollte sie auf dem Oberrealschulzweig der Talmud- Tora-Schule Abitur machen, wozu es jedoch nicht mehr kam. Sie war gezwungen, ihre Ausbildung zu unterbrechen und wurde während des laufenden Schuljahres, im März 1938, aus der Klasse III a entlassen. Bis zu ihrer Auswanderung im November besuchte sie weiterhin die Schule Karolinenstraße.

Die Folgen des Novemberpogroms 1938 wirkten sich unmittelbar auf Familie Freundlich aus. Unter dem Druck der Verfolgung bereitete sich Erika auf die Auswanderung nach England vor. Eine Lehrerin hatte ihr geraten, sich einem Schülertransport anzuschließen. Aber Erika hatte Bedenken. „Ich kann meine Eltern nicht verlassen, ich bin das einzige Kind zu Hause.“ Doch die Eltern unterstützten die Auswanderung ihrer jüngsten Tochter. An Vorbereitungszeit blieben nur etwa zehn Tage. Am 14. Dezember fand sich die Familie auf dem Altonaer Bahnhof ein. Erika erinnerte sich: „Es war entsetzlich auf diesem Bahnhof, aber ich habe es nicht gemerkt. Mein Vater trug diesen blauen Mantel und wahrscheinlich auch einen Hut. Und er hat geweint, so viel geweint, und ich konnte es nicht ertragen... Ich habe niemals meine Mutter angeblickt, ich wollte sie nicht ansehen, vielleicht wird sie weinen, dann würde ich auch weinen. Ich war sehr gut, ich habe sie nicht angeguckt, ich habe nicht geweint, mein Vater hat geweint, und dann sind wir auf die Bahn gekommen; er hat mich gesegnet ... Das war das letzte Mal, dass ich meine Eltern gesehen habe.“

Paul Freundlich schilderte in einem Brief vom 19. Dezember 1938 seiner Tochter Gerda die unverhoffte Schnelligkeit der Ereignisse sowie die Atmosphäre auf dem Bahnhof. „Ich kann es mir noch gar nicht so recht vorstellen, dass Erika nicht mehr hier sein soll. Das ging alles so plötzlich. ... Ihr könnt euch gar nicht vorstellen den Abschied, den Eltern und Kinder voneinander nahmen. Da sah ich drei kleine Kinderchen, das Jüngste mochte 5 Jahre alt gewesen sein und ihre Händchen in die der Geschwister, die vielleicht ein oder zwei Jahre älter waren, gelegt. Das Kleinchen wollte sich gar nicht von der Mutter trennen. Das ganze Bild, das die auswandernden Kinder zeigten, war bejammernswert ... (und) grauenerregend. Und bei alledem, es war am besten so für die Kinder.“  An einen längeren Abschied oder gar an eine endgültige Trennung dachte zu diesem Zeitpunkt wohl noch niemand. Vielmehr hoffte Erika Freundlich, dass nach ihrem Weggang auch die Eltern ihre Auswanderung forcieren würden.

Doch neben der Sorge um die Auswanderung der jüngsten Tochter hatten sich die Eltern mit dem Fiskus  herumzuschlagen. Am 21. November 1938 leitete Zollinspektor Werner von der Zollfahndungsstelle Hamburg ein „Sicherungsverfahren“ gegen die Eheleute Freundlich ein. Er informierte die Devisenstelle über einen Kapitalfluchtverdacht, nachdem die Tochter Gerda die Ausstellung einer steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung beantragt hatte, ein Papier, das zur Auswanderung nötig war. Eine vorläufige „Sicherungsanordnung“ war bereits erlassen worden, Abschriften an die Gestapo, den Steuerfahndungsdienst und die Reichsbankhauptstelle Hamburg waren unterwegs. Den Eheleuten Freundlich ging sie per Einschreiben zu. Nun waren alle Konten der vermögenden Familie gesperrt, die Wertpapiere vor dem Zugriff des Eigentümers „gesichert“, eine Auflistung der Vermögenswerte, des Grundbesitzes und der Forderungen aus Hypothekenbriefen etc. erstellt. Nur über Erträge aus den Wertpapieren konnte frei verfügt werden. Deren Verkauf war auch möglich, jedoch nur, wenn Paul Freundlich den Erlös auf das gesperrte Konto bei der Warburg-Bank überwies bzw. in ein Depot brachte.

Ein Grundstück in der Schillerstraße 10 in Wandsbek musste verkauft werden. Anfangs blieben der Familie noch 1.000 RM monatlich, die ohne Genehmigung dem Konto entnommen werden durften. Im Februar 1939 beantragte Paul Freundlich die Freigabe von 460 RM für seine in Paris studierende Tochter Hildegard für die Monate Januar und Februar, im März forderte er 280,69 RM Ausbildungsgelder an, um sie an den Zentralausschuss für Hilfe & Aufbau, Berlin-Charlottenburg zu zahlen. Die Devisenstelle hatte die Freigabe der Mittel verweigert, da die Tochter „im feindlichen Ausland“ studierte, musste sie jedoch freigeben, denn die  Reichsvereinigung verfügte über die entsprechende Genehmigung.

Für die seit 1936 in der Schweiz lebende und mittlerweile studierende Tochter Gerda waren auf einem Sperrdepot bereits Wertpapiere in Höhe von 8.000 RM als Reichsfluchtsteuersicherheit hinterlegt. Die Devisenstelle vermerkte über die in London lebende Tochter Erika, dass sie nach Mitteilung des Vaters dort erkrankt und mit ihrer Rückkehr nach Deutschland zu rechnen sei. Doch dazu kam es glücklicherweise nicht.

Die Devisenstelle war weiterhin damit beschäftigt, das Vermögen der Freundlichs zu kontrollieren und zu dezimieren. Der Fragebogen, den Paul Freundlich einreichte, wies zu dieser Zeit noch beträchtliche Mittel aus, allein an Reichsfluchtsteuer wurden 33.000 RM fällig. Die Raten für die „Judenvermögensabgabe“, mit der Juden für Schäden des Novemberpogroms zur Kasse gebeten wurden, summierten sich für Paul, Irma und Gerda Freundlich auf ca. 23.000 RM.  Für die Tochter Erika waren am 18. Dezember 1938, bereits vier Tage nach ihrer Auswanderung,  8.000 RM zu hinterlegen.

Die bewilligten Mittel zum Lebensunterhalt wurden eingeschränkt. Von den beantragten 1.505 RM, darunter 175 RM für Miete, für einen fünfköpfigen Haushalt (drei Kinder im Ausland), wurden 450 RM  für zwei Personen, also die Eheleute Freundlich, bewilligt.

Jede kleinste Ausgabe, die nicht vom Freibetrag bestritten werden konnte, musste beantragt werden. Im Falle der Freundlichs waren das u.a. von Mai bis November 1940 30 RM für Synagogenplätze, 22 RM für die Umarbeitung eines Pelzkragens, rund 25 RM für einen Luftschutzkeller-Zuschuss, „30 RM für Hermann Wollenberg in Breslau als Geschenk für meinen sich in Not befindenden Vetter“. Im Dezember 1940 beantragte Paul Freundlich 100 RM für Weihnachtsgeschenke. Die kleineren Beträge wurden meist genehmigt.

Ende des Jahres folgte ein Antrag über 30 RM als Ersatz für Ausgaben, die seiner Frau durch ihre Arbeitsaufnahme in Altona entstanden waren. Irma Freundlich gehörte zu den knapp 790 jüdischen Hamburgern, die zu einem Arbeitseinsatz zwangsverpflichtet wurden. Ihr Ehemann meldete der Devisenstelle: „Meine Frau Irma Sara Freundlich ist seit 16.12.1940 in dem Conserven-Werk Teckentrop, Altona, Feldstr. 19 in Arbeit. Der Lohn wird von der Fa. Teckentrop auf mein beschränkt verfügbares Sicherungskonto eingezahlt. Mit Rücksicht auf die erhöhten Ausgaben, die meiner Frau entstehen, bitte ich für die Dauer der Arbeitstätigkeit meiner Frau um den zusätzlichen Freibetrag von monatlich RM 50.“ Die Genehmigung wurde erteilt und auf sechs Monate befristet.

Die Tochter Gerda gab den Eltern weiterhin Anlass zur Sorge. Als Flüchtling konnte sie in der Schweiz nicht arbeiten und lebte von Studiengeldern, die ihr Vater bis April 1940 zahlte,  belegte Kurse als Zuschneiderin und verbesserte ihre Französischkenntnisse, um als Sprachlehrerin arbeiten zu können. 1941 erhielt sie eine kleinere Summe aus dem Nachlass ihrer Mutter. Nachdem die Unterstützung aus Deutschland gänzlich ausblieb, fristete sie ihr Leben unter kargen Bedingungen. Halb verhungert wurde sie fortan von jüdischen Hilfskomitees unterstützt.

Obwohl über Auswanderungsabsichten der Eheleute Freundlich kaum etwas dokumentiert ist, kann davon ausgegangen werden, dass sie ihren Verwandten in die USA folgen wollten, um gemeinsam ein neues Leben aufzubauen. Neben den beiden Töchtern Ingeborg und Hildegard lebten dort schon Irma Freundlichs Eltern sowie ihre Schwester und ihr Schwager.

Während Irma Freundlich unter die deutsche Quote fiel und ein Visum bereits in Aussicht hatte, unterlag Paul Freundlich, gebürtig in der Provinz Posen, die seit 1919 zu Polen gehörte,   jedoch der niedrigeren polnischen Quote. Eine tragische Entwicklung, aufgrund derer die Eheleute in Deutschland nun gemeinsam festsaßen, denn Irma Freundlich wollte ihren Mann nicht allein zurücklassen. Da in Europa mittlerweile Krieg herrschte, kam nun nur noch ein Aufnahmeland in Übersee in Betracht. Unterlagen, die sich im Besitz der Tochter Erika befinden, belegen, dass Paul Freundlich 1940 vom brasilianischen Konsulat abgewiesen wurde, da er in Brasilien keine Verwandten vorweisen konnte. Zudem hatte das Land eine Einreisesperre gegen Pharmazeuten erlassen, deren ausländische Diplome wurden nicht mehr anerkannt und somit die Existenzsicherung infrage gestellt.

Im Oktober und November 1941 versuchten die Töchter Ingeborg und Gerda vom Ausland aus, kubanische Visa für die Eltern zu beschaffen. Offenbar mit Erfolg, denn in einem von  Ingeborg Smedresman aufgegebenen Telegramm hieß es am 7. November 1941: „Visum 8876 an Kubalegation gekabelt. Besorgt Schiffskarten.“ Gleich am nächsten Tag stellte Paul Freundlich einen Antrag auf Auswanderung nach Kuba. Doch mittlerweile war es Jüdinnen und Juden verboten, aus Deutschland auszuwandern.

Wie groß die Sorge der Töchter um die Eltern war, nachdem sie von der „Evakuierung“ ihrer Verwandten Heimann und Meta Freundlich nach Minsk, und der fünfköpfigen Familie des Josef Beith nach Lodz erfahren hatten, bezeugt ein Telegramm vom 30.November 1941, in dem es u.a. hieß: „Eltern droht dasselbe.“

Als das kubanische Visum im Oktober 1943 schließlich erteilt wurde, kam es mit dem Vermerk „unbekannte Adresse“ zurück, laut einer Mitteilung an das New Yorker Rote Kreuz. 

Im Juli 1941 waren die Eheleute Freundlich zu einer Sommererholung gefahren. Im Herbst kursierten Gerüchte über sogenannte Arbeitseinsätze im Osten, die sich im Oktober 1941 konkretisierten, als die ersten Deportationsbefehle verschickt wurden.

Paul Freundlich wollte vorsorgen, hoffte wohl, dass eine gute Ausstattung nützlich sein würde und beantragte 400 RM Sonderbewilligung für sich und seine Ehefrau für die bevorstehende „Evakuierung“. Die  Genehmigung dafür erhielt er am 4. Dezember 1941. Ein Hinweis darauf, dass die Freundlichs bereits für die Deportation nach Riga am 6. Dezember vorgesehen, aber zurückgestellt worden waren? Die Genehmigung wurde bis zum 10. Februar 1942 verlängert, eine weitere Verlängerung um einen Monat folgte.

Im Juli erhielten die Eheleute den Deportationsbefehl in die Oderfelderstraße zugestellt. Sie fanden sich in der Sammelstelle ein und hatten am 11. Juli 1942 den Zug nach Auschwitz zu besteigen. Dort verlor sich ihre Spur. Paul Freundlich war knapp 63, Irma Freundlich 46 Jahre alt.

Gerda Freundlich wanderte nach Kriegsende von der Schweiz in die USA aus, wo sie in New York lebte. Als ausgebildete Zeichnerin und Malerin versuchte sie auf dem amerikanischen Markt Fuß zu fassen, hatte jedoch Schwierigkeiten, sich durchzusetzen, zumal sie krank war. Anlässlich ihrer Einbürgerung 1960 nahm sie den Namen Gordé an. Ihre materielle Lage besserte sich erst, als sie 1964 in die Schweiz zurückkehrte und von Rentenzahlungen aus Deutschland lebte. Allerdings brach sie den Kontakt zu ihrer Familie ab. Sie starb 1984.

Erika Freundlich lebte im Mai 1945 in London. Sie war 23 Jahre alt. Bis zum Kriegsausbruch hatte sie mit ihren Eltern in Hamburg in Briefkontakt gestanden. Danach erhielt sie noch Informationen von ihren in Amerika lebenden Schwestern Ingeborg und Hildegard über ihre Eltern, bis auch dieser Kontakt abbrach, als die USA 1941 in den Krieg eintraten.

In England besuchte Erika von Januar 1939 bis Juli 1940 eine private Mittelschule in Islington, war infolge einer Erkrankung gezwungen, ihre Ausbildung zu unterbrechen und nahm sie nach ihrer Genesung wieder auf. Im Juli 1940 musste sie die Schule dann doch verlassen, da diese kriegsbedingt geschlossen wurde, und arbeitete ab Herbst 1940 im Büro der Jewish Agency for Palestine.

Von der Deportation ihrer Eltern nach Auschwitz erfuhr Erika nichts. „Ich habe immer geglaubt, wenn der Krieg vorbei ist, werden wir uns wiedertreffen.“ Ihre älteren Schwestern dagegen waren über die Vorgänge in Hamburg informiert.

Einige Zeit nach Kriegsende erhielt Erika Freundlich in London von einer Kollegin eine Zeitungsannonce, die im „Aufbau“ erschienen war, einer deutschsprachigen New Yorker Zeitung, in der zu dieser Zeit unzählige Suchanzeigen von Hinterbliebenen aufgegeben wurden. „Ich suche meine Eltern Paul Freundlich und Irma Freundlich, geb. Beith... Dankbar für jede Auskunft“, hatte Erikas Schwester Hildegard inseriert. Erika Freundlich war gezwungen, sich den Tatsachen zu stellen: „So habe ich das erfahren. Doch niemand hat sich auf die Anzeige gemeldet.“ Sie machte sich nun regelmäßig zum Suchdienst auf und sichtete die Listen mit den Namen der Lagerüberlebenden. Die Namen ihrer Eltern suchte sie jedoch vergeblich. „Jeden Tag bin ich dahin gegangen und habe davor gestanden und habe geweint und habe sie nie gefunden. Das war das Ende.“ 1946 übersiedelte Erika Freundlich in die USA, wo sie 1947 heiratete und eine Familie gründete. Gegenüber dem früheren Gastland England empfindet sie in erster Linie Dankbarkeit, stellt sich heute allerdings die Frage, warum es damals keine Möglichkeit gab, auch die Eltern der Kinder aufzunehmen. Lange Zeit hat sie die Hoffnung genährt, ihre Mutter könnte doch überlebt haben. Ihren drei Kindern wollte Erika eine unbeschwerte Kindheit erhalten. Erst seit den 1980er Jahren hat sie über ihr eigenes Schicksal und das ihrer Eltern gesprochen.

Eine innere Verbindung zu Hamburg, zu Deutschland ist geblieben. Erika Estis hat Hamburg erstmalig Anfang der 1990er Jahre mit ihren Kindern und später auch mit den Enkelkindern besucht. In einer E-Mail hieß es: „Vergiss nicht zu schreiben von den Glocken der Christuskirche, ich höre ihr Läuten immer noch.“

Astrid Louven

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Familie Meiberg

Fanny Meiberg, geb. Stiefel, geb. 6.1.1872 
deportiert am 19.7.42 Theresienstadt, verstorben 16.10.43 Theresienstadt

Julius Meiberg, geb. 4.6.1897, deportiert am 19.7.1942 Theresienstadt,  am 28.9.44 Auschwitz

Frieda, geb. Birnbaum, geb. 11.12.1903, deportiert am  19.7.42 Theresienstadt, am 4.10.44 Auschwitz

Ruth Meiberg, geb. 27.5.1932, deportiert am 19.7.42 Theresienstadt, am 4.10.44 Auschwitz

Manfred Meiberg, geb. 5.11.1934, deport. 19.7.42 Theresienstadt, am 4.10.44 Auschwitz

Kleiner Schäferkamp 32

Die Familie Meiberg gehört zu den jüdischen Bewohnern Wandsbeks, die sich seit drei  Generationen dort nachweisen lassen. Fanny Meiberg wurde am 6. Januar 1872 als Tochter des Schlachters Isaac Stiefel (Jg.1843) und Jeanette, geb. Leon (Jg.1831),  in Wandsbek geboren. Sie hatte noch den älteren Bruder Henry (Jg.1870) und eine zwei Jahre jüngere Schwester: Hanna Stiefel (Jg.1874), die unverheiratet in Wandsbek wohnen blieb und 1941 nach Minsk deportiert wurde (s. Broschüre „Stolpersteine in Hamburg-Wandsbek mit den Walddörfern“).

Lebensmittelpunkt der Familien Stiefel und Meiberg war die Straße Langereihe in Wandsbek, wo sich auch die Synagoge befand. Gegen Ende der 1890er Jahre heiratete Fanny Stiefel Mayer Meiberg. Das Paar hat Wandsbek vermutlich in Richtung Landgebiet Bremen verlassen, denn ihre beiden Söhne Julius (1897) und Gustav (1900) wurden in Aumund bzw. Vegesack geboren. Wann sie nach Wandsbek zurückkehrten, ist nicht geklärt. Möglicherweise hing die Rückkehr mit dem Tod der Eltern 1908 bzw. 1918 zusammen. Die Gräber von Isaac und Jeanette Stiefel befinden sich auf dem Friedhof Jenfelder Straße.

Fanny Meibergs älterer Sohn Julius arbeitete als Handlungsgehilfe und Kontorist, seit 1926 als I. Expedient und Lagerverwalter in gehobener Position bei der Firma Rudolf Reich in Hamburg. Der Betrieb mit Sitz am Neuen Wall 41 war im Im- und Export von Lack- und Farbrohstoffen tätig und unterhielt eine eigene Fabrikation des Pigments Bleiweiß und eine Terpentinöl-Destillation.

1929 heiratete Julius Meiberg die 1903 in Hannover geborene Frieda, geb. Birnbaum. Das Paar bezog Quartier in der Langereihe 57, wo auch sein Bruder Gustav gemeldet war, wechselte 1930 in die Langereihe 47 und verzog noch im selben Jahr nach Hamburg. Hier wurden die Tochter Ruth am 27.Mai 1932 und der Sohn Manfred am 5.November 1934  geboren. Die Familie war in die DIG (s. Glossar) eingetreten und hatte sich dem Synagogenverband der Bornplatz-Synagoge angeschlossen. Die Wohnung, die über sieben Zimmer verfügte, befand sich in der Grindelallee 134 im IV. Stock.

1937 starb Fanny Meibergs Ehemann. Damit offenbar zusammenhängend verließ sie Wandsbek und trat ebenfalls in die DIG ein (s. Glossar). Gemeldet war sie in der Straße Heidberg 53, danach Isestr. 63 und Klosterallee 67 bei Isenberg. 1939 zog sie zur Familie  ihres Sohnes Julius in die Grindelallee 134.

Dieser verlor 1938 seine Stellung. Die jüdischen Firmeninhaber Rudolf Reich und Ernst Cohn lebten bereits im Ausland und hatten den Verkauf ihres Betriebes von ihrer Geschäftsführerin durchführen lassen. Nachdem die neuen Inhaber die Firma übernommen hatten, mussten alle jüdischen Angestellten etwa im Oktober 1938 den Betrieb verlassen. Wie die Familie ihren Lebensunterhalt seitdem bestritt, ist nicht bekannt. Möglicherweise bezogen die Meibergs   Unterstützungsleistungen der jüdischen Wohlfahrt. Nach einem Eintrag auf der Kultussteuerkarte war Meiberg allerdings auf dem gemeindeeigenen Friedhof des JRV (s. Glossar) in Ohlsdorf eingesetzt.

Sein Bruder Gustav Meiberg, Weltkriegsteilnehmer, Kaufmann und inzwischen Koch, hatte  bei seiner Tante Hanna Stiefel in Wandsbek, Langereihe 57, gewohnt. Dass er, wie auch die übrige Familie dem Judentum verbunden war, zeigte seine Mitarbeit in der Jüdischen Gemeinde Wandsbek, der er bis Anfang der 1930er Jahre angehörte.  1934 war er von Hammerbrook, Wendenstr. 33 bei Gabel – so lautete der Geburtsname seiner Ehefrau – mit  seiner Frau Charlotte nach Palästina ausgewandert.

Auch die Eheleute Julius und Frieda Meiberg trugen sich mit Auswanderungsplänen, wie den Akten zu entnehmen ist. Doch eine Familie mit zwei kleinen Kindern und geringen  Geldmitteln konnte nicht sonderlich flexibel reagieren, zumal die Möglichkeiten, ein Aufnahmeland zu finden, begrenzt waren. Den Eltern erschien es vordringlich, wenigstens die Kinder Ruth und Manfred mit einem Kindertransport nach Frankreich in Sicherheit zu bringen. Anfang 1939 hatte der Vater den Fragebogen für Auswanderer ausgefüllt,  nun lag das Gutachten beim Passbüro Stadthaus, also bei der Gestapo. Die Unbedenklichkeitsbescheinigung wurde am 13. Januar 1939 erteilt. Wenig später durften die Kinder – sie waren sechs und vier Jahre alt –  ausreisen. Eine Notiz auf der Kultussteuerkarte lautete „Januar 39 n. Paris“. Damit gehörten Ruth und Manfred Meiberg zu den 700 Kindern, denen Frankreich nach dem Novemberpogrom 1938 Asyl bot. Die dort tätige Hilfsorganisation OSE betrieb die Rettung jüdischer Kinder. Zunächst wurden drei- bis 15jährige Kinder aus Deutschland geholt und in die vier eigens eingerichteten Heime in Montmorency, 16 km nördlich von Paris untergebracht. Geplant war u.a., sie nach einem Jahr in öffentliche Schulen zu integrieren. Nachdem Paris am 10. Juni 1940 von deutschen Truppen besetzt worden war, wurden die jüdischen Kinder wieder zu Flüchtlingen und nach Südwestfrankreich evakuiert.

Die Eltern Meiberg hatten indessen in Hamburg versucht, ihre eigene Auswanderung voranzutreiben.  Ende März 1939 teilte die Reichsbankhauptstelle der Devisenstelle Hamburg mit, dass das Umzugsgut der Familie versandt worden war. Bestimmungsland war China. Das Vorhaben kam nicht zustande, doch Ende 1939 – es herrschte bereits Krieg –  unternahmen Julius und Frieda Meiberg einen zweiten Versuch. Es bestand nun der Plan, nach Chile auszuwandern. Die Unbedenklichkeitsbescheinigung der Devisenstelle wurde am  3. Januar 1940 erteilt, nachdem das Finanzamt schon im November grünes Licht gegeben hatte und das Umzugsgut geschätzt und geprüft worden war. Doch wiederum scheiterte der Plan. Sei es, weil die Einwanderung von den chilenischen Behörden ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt, nämlich Anfang 1940, generell gestoppt wurde, sei es, dass die Familie evtl.   Schmiergeldforderungen des Konsulatspersonals nicht nachkommen konnte. Dass für Einreisevisa in mittel- und südamerikanische Länder gezahlt werden musste, war unter den Hamburger Emigranten ein offenes Geheimnis. Ob das chilenische Konsulat sich auch dieser Praxis bediente, ist nicht geklärt. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich das Auswanderungsvorhaben aus Gründen verzögerte, die mit dem Schicksal der Meiberg-Kinder in Frankreich zusammenhingen. Denn seit  Juni 1940 konnten die Nachrichten aus  Paris nur noch beunruhigen. Ein „Judenreferat“ war eingerichtet worden, das sich sofort daran machte, antijüdische Maßnahmen anzuordnen. Unter diesen Umständen erwogen viele Eltern  die Rückkehr ihrer Kinder und begannen sie wieder nach Hause zu holen. Am 5. Dezember 1940 kehrten auch Ruth und Manfred nach Hamburg zurück. So gehörten sie unglücklicherweise nicht zu den zahlreichen jüdischen Kindern, die 1941/42 von Frankreich aus in den USA Aufnahme fanden und gerettet wurden.

Auswanderungspläne hat die Familie Meiberg nun anscheinend nicht mehr betrieben, obwohl die Emigration vonseiten der deutschen Behörden noch bis zum 23. Oktober 1941 möglich gewesen wäre. Doch bei diesem  Datum handelt es sich um ein theoretisches, da vielen Auswanderungswilligen neben den nötigen Geldmitteln vor allem die Visa aufnahmebereiter Staaten fehlten. Als ich die Listen der Gestapo wegen einer Ergänzung noch einmal durchsah, fand ich unter den Deportierten nach Minsk (18. November 1941) zufällig die Familie Meiberg, die Eltern und die beiden Kinder, allerdings waren ihre Namen durchgestrichen. Offenbar sollten sie bereits zu diesem Termin deportiert werden, wurden aber zurückgestellt. Die Gründe sind unbekannt.

Am 17. März 1942 sah sich die Familie gezwungen, ihre Wohnung in der Grindelallee aufzugeben und Quartier in dem sogen. Judenhaus im Kleinen Schäferkamp 32 zu nehmen. Auch Fanny Meiberg wurde dort eingewiesen.

Die beiden Kinder besuchten seit ihrer Rückkehr aus Frankreich nun die jüdische Schule am  Papendamm 3. Von dort erhielten sie Ende Juni 1942 die Abgangszeugnisse. Manfred verließ die Schule mit Ende des 1. Schuljahres G1. Aus seinem Zeugnis: „... ist ein fleißiger Schüler. Er rechnet sehr gut. Seine Leistungen im Lesen sind gut. Diktate schreibt er jetzt auch besser. Besonders gut sind seine Leistungen im Hebräischen. Manfred ist musikalisch begabt. Er hat das Klassenziel erreicht.“ Über Ruth schrieb ihr Klassenlehrer Rosenbaum: „... hat unsere Schule seit April 1939 bis Juli 1942 besucht und war seit September 1941 Schülerin der Klasse G3.“ Die zeitliche Diskrepanz, die sich aus dem Datum der Einschulung und dem Aufenthalt der Kinder in Frankreich ergibt, konnte nicht mehr geklärt werden.

Die Zahlung der Kultussteuerbeiträge, die bis dahin regelmäßig geleistet und notiert worden war,  brach Mitte Juli ab. Die Familie hatte die Deportationsbefehle erhalten.  Fanny Meiberg schickte noch einen Rotkreuzbrief als letzte Nachricht von Hamburg nach Haifa an ihren Sohn Gustav. Die fünfköpfige Familie fand sich in der Sammelstelle ein und musste am 19. Juli 1942 den Zug besteigen, der sie nach Theresienstadt brachte. Einen Tag später wurden sie auf der Zugangsliste des Gettos registriert.  Doch anders als bei den meisten Deportierten, gibt es jemanden, heute eine ältere Dame, die sich die Erinnerung an die Familie, insbesondere an Ruth Meiberg bewahrt hat. Die Aufzeichnungen  der aus Hannover stammenden Gerda Steinfeld legen Zeugnis ab von einer tröstlichen Begegnung an einem trostlosen Ort.  Sie werfen auch ein Schlaglicht auf die besondere Situation von Kindern innerhalb des Gettos, die trotz Hungers und physischer Schwäche ihre Würde bewahrten und damit eine erstaunliche Stärke zeigten (s. Kasten).

Als Ruth Meiberg das Gedicht für ihre Lehrer verfasste, lebte ihre Großmutter nicht mehr.  Fanny Meiberg starb am  16. Oktober 1943 in der drangvollen Enge des überbelegten Gettos. Im folgenden Jahr ein weiterer Abschied in Theresienstadt: Julius Meiberg wurde am 28. September 1944 nach Auschwitz deportiert – ohne seine Familie. Seine Name befand sich auf der Transportliste unter der Nummer Ek-1197. Wenige Tage später, am 4. Oktober 1944, mussten auch Frieda Meiberg und ihre beiden Kinder Ruth und Manfred den gleichen Weg gehen. Ihre Namen waren unter En-907 bis En-909 in Theresienstadt registriert.   Es ist anzunehmen, dass die Meibergs in Auschwitz nicht aktenkundig geworden sind, sondern die Mutter zusammen mit ihren 12 bzw. neun Jahre alten Kindern unmittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern Auschwitz’ getötet wurde.

Todesnachweise über Frieda und Julius Meiberg und ihre Kinder sind demnach nicht vorhanden. Lediglich die Transportlisten der Gestapo Hamburg, die Zugangs- und  Transportliste des Gettos Theresienstadt, letztere für Auschwitz, und eine Karteikarte standen dem Internationalen Roten Kreuz zur Verfügung.  Die Familie wurde auf  Ende 1945 für tot erklärt.

Astrid Louven

Es folgen: Erinnerungen von Gerda Steinfeld an Ruth Meiberg 

Meine Freundin

Im Ghetto Theresienstadt. 1943. Frühjahr. Erst vor kurzem war ich aus der Krankenstube in der Dresdner Kaserne entlassen worden. Kraftlos saß ich auf einer Sitzgelegenheit im Hof unseres Ubikationsblocks Q 808. Niemand wollte sich zu mir setzen. Ich hatte Tuberkulose. Elfjährig fühlte ich mich sehr einsam, trotz der vielen Menschen um mich herum. Plötzlich stand sie da, ich sah sie am Mauerdurchbruch, der den Weg zu den angrenzenden Höfen innerhalb des Gebäudequadrats freigab. Herrschte draußen Ausgangssperre,  konnte man sich hier frei bewegen.

Sie war elf Jahre alt, sprach Deutsch. Ich sah sie an – blonde Haare, die Oberlippe war leicht nach oben geschwungen, was ihr eine besondere Note verlieh. Ihre Haut hatte die Farbe eines Pfirsichs. Sie sagte, sie hieße Ruth und käme aus Hamburg. „Und wie heißt du?“ fragte sie mich. – „Ich heiße Gerda und komme aus Hannover“ – war meine Antwort. „Bderda“ – lächelte sie, dabei wölbte sie ihre Oberlippe, um den B-Laut zu formen. „Bderda“ war ich von nun an. Niemand Anders hat mich je so genannt und ich habe es auch niemandem erzählt. Das blieb unter uns. Ruthi hatte keine Angst, sich anzustecken. Sie wollte bei mir sein, mir Gesellschaft leisten, damit ich nicht mehr so allein bin. Und von dem Augenblick an, an dem Ruthi in mein Leben getreten war, war ich nicht mehr allein. Wir waren Freundinnen geworden. Sie war so treu und anhänglich und warm. Ruthi lächelte viel und ich fand sie bezaubernd. Engelhaft.

Als es mir besser ging, besuchte ich sie in ihrer Ubikation. Die Entfernung war ziemlich groß. Der Weg führte durch ein „Wäldchen“, dann über den großen Platz an der Kirche vorbei. Ich lernte ihren kleinen Bruder Manfred, ihre Mutter und ihren Vater kennen. Wir spielten mit Murmeln, die wir uns aus Erde und Wasser geformt hatten. Ruthi grub mit den Händen eine kleine Grube an der Hauswand. Wir ließen die Murmeln in die Grube rollen. Wer dabei die Murmeln der anderen anstieß, durfte sich die Murmel nehmen, hatte sie gewonnen. Das Spiel verlief immer harmonisch, weil Ruthi so friedfertig war. Sie kannte keinen bösen Gedanken. Wir liebten dieses Spiel, weil es keinen Kraftaufwand erforderte, wie zum Beispiel Ballspielen.

Ruthi war immer gut gelaunt, strahlte Güte und Optimismus aus. Auf ihre Anregung hin schlossen wir uns einer „Beschäftigungsgruppe“ an. Lernen war ja verboten, so wurde der improvisierte Unterricht als Beschäftigung ausgegeben. Jeden Tag trafen wir in einer bestimmten Ubikation mit etwa 5-6 anderen gleichaltrigen Mädchen zusammen...“

Anlässlich des jüdischen Neujahres 1944 verfasste Ruth Meiberg das folgende Gedicht, das sich an die Lehrer, die im Getto illegal Unterricht erteilten, wandte.

„Liebe Lehrer

Wir  wünschen Euch von Herzen Glück

Viel Freude und viel Segen,

Wir wünschen Euch ein gutes Jahr

und ein recht langes Leben.

 

So süß wie heut' der Honig

So brav wollen wir sein dieses Jahr,

So dass Ihr noch werdet berühmt

Mit Eurer Kinderschar.

 

Wenn wir das Versprechen nicht halten,

Werdet nicht gleich ganz nervös,

Erinnert uns nur zu Zeiten

und seid uns nicht gleich bös'.

 

Es gab kein Entrinnen - und auch Wasser gab es nicht

Ruthi, du bestiegst den Güterwaggon in Terezin, mit deiner Mutter und deinem kleinen Bruder. Du warst ruhig, hatte man dir doch versprochen, dass du zu deinem Vater fährst, der schon vor zwei Wochen etwa voraus gefahren war. Du saßt im Waggon, neben deiner Mutter und deinem kleinen Bruder Manfred. Es war fast dunkel im Innern des Waggons. Die Luft war stickig in dem überfüllten Waggon. Du beruhigtest den kleinen Manfred, der etwas weinerlich da saß. Du sagtest ihm, dass ihr nun bald wieder mit eurem Vater vereint sein würdet. So hatte man es euch ja versprochen. Nur noch ein Weilchen, und ihr seid wieder bei ihm. Welche Freude würde das werden.

Ruthi, an was dachtest du auf dieser langen Fahrt, die deine Letzte war? Dachtest du an Schule und sich satt essen? An groß werden?

Ruthi, meine gutherzige, kluge Freundin, du konntest nicht wissen, dass du für ewig 12 Jahre alt bleibst.

Die Bremsen quieschten laut, als der  Zug endlich stehen blieb. Es wurde hell. Du wolltest hinausschauen, als erste den Vater am  Bahnsteig sehen, auf ihn zulaufen und ihn umarmen...

Alles raus! Wilde Schreie. Durcheinander. Raus. Raus. Du hieltest die Hand deiner Mutter fest und die Hand deines Bruders. Ihr marschiertet voraus, auf dem Weg, den die Uniformierten euch anwiesen.

Was sahst du als du dich umblicktest? Vom Vater keine Spur. Die Enttäuschung stieg in dir hoch. Wo ist mein Vater? Werde ich ihn am Ende des Weges sehen? Also gingst du weiter.

In dem großen Raum legtest du auf Befehl deine Kleider ab. Der Raum erinnerte dich an die Duschräume in Terezin. An den kahlen Wänden entlang liefen Rohre. Unter der Decke viele Öffnungen. Gleich würde das kalte Wasser Euch erfrischen. Du hattest Durst, warst von der langen Reise erschöpft. Sehnsüchtig wartest du auf den Wasserstrahl, der dich erfrischen würde. Und es kamen immer mehr Leute in den Raum. Er war prall voll. Du hattest kaum Platz zum Atmen. Wann kommt endlich das Wasser?

Ein lauter Knall. Die Tür fiel zu. Und noch ein lauter Knall.  Der schwere Riegel wurde vorgeschoben.

Es gab kein Entrinnen - und kein Wasser.

 

Ruthi, Ruthi, Ruthi - du lebst. In mir. Die deine Freundin war. Deine letzte. Immer bist du bei mir.  Zwölfjährig, fein und zart.

 

Du wurdest nie Mutter, Großmutter.

Das Heilige Land war dir versagt.  Warum? Warum?

Du warst ein Engel auf Erden.

Mögen diese Zeilen ein Denkmal sein für dich, die du in mir weiter lebst, bis an mein Ende.

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