Erika Freundlich, Kindertransporte aus Hamburg

Der 14. Dezember 1938 ist ein nasskalter Tag. Ein Taxi hält auf dem Bahnhofsvorplatz. Die 16jährige Erika und ihre Eltern, der

Paul, Irma, Erika Freundlich 1937
Paul, Irma, Erika Freundlich 1937

frühere Eimsbütteler Apotheker Paul Freundlich und seine Ehefrau Irma, steigen aus und finden sich am Treffpunkt beim Wartesaal der II. Klasse ein. Hier versammeln sich an diesem Mittwochmorgen bis zum späten Vormittag Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 3 und 17 Jahren und ihre Angehörigen.

Wenn ich heute durch die Halle des Altonaer Bahnhofs zur S-Bahn gehe, empfängt mich oftmals das Stimmengewirr von Schulklassen, bevor ich mich durch Grüppchen von Kindern, Eltern und Gepäckstücken drängen muss. Die Kinder, die im Spätherbst 1938 von hier abreisten, gingen nicht auf Klassenfahrt, sondern ins Exil nach England. Sie waren jüdisch oder galten nach der nationalsozialistischen Terminologie als Juden. Für die meisten Familien war es ein Abschied für immer. Zu Erika E., geb. Freundlich, einer der damals ausreisenden jüdischen Mädchen, habe ich seit 1992 Kontakt. Doch es hat sich erst seit kurzem ergeben, dass wir intensiver über ihre Ausreise aus Hamburg und die in England verbrachten Jahre sprechen konnten, zuletzt bei meinem Besuch im Mai 2009 in den USA.

Nach der sogenannten Kristallnacht, dem Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung am 9. und 10. November 1938, entschloss sich die britische Regierung, jüdische Kinder in England aufzunehmen, um sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu schützen. Die Abteilung Kinderauswanderung, eine Unterabteilung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland mit Sitz in Berlin, organisierte in Absprache mit Hilfsorganisationen im Inland und in England die Ausreise. In Hamburg setzte der Jüdische Religionsverband die Pläne um.
Wir wissen nicht genau, wie viele Kindergruppen aus Hamburg abfuhren und wie groß die einzelnen Gruppen waren. Auch für diesen zweiten Kindertransport aus Hamburg sind keine genauen Zahlen angegeben. In der Literatur werden allgemein 40 bis 500 Kinder pro Transport genannt. Die Familien waren vom Jüdischen Religionsverband Hamburg über das Prozedere der Abreise informiert worden. Demnach sollten sich die Kinder in zwei Gruppen nacheinander im Bahnhof versammeln. An Gepäckstücken waren ein Koffer, ein Rucksack oder eine Aktentasche erlaubt. Die Reiseverpflegung sollte

Publikation des Stadtteilarchivs Ottensens 2010
Publikation des Stadtteilarchivs Ottensens 2010, enthält u.a. den o.a. Text von mir zum Thema Kindertransporte vom Altonaer Bahnhof.

bis zum Nachmittag vier Uhr vorhalten, warmes Essen würde unterwegs ausgegeben. Ferner wurde den Familien empfohlen, den Kindern warme Kleidung anzuziehen und mitzugeben.
Spätestens seit dem Novemberpogrom musste die jüdische Bevölkerung um Sicherheit und Leben fürchten, so dass sich viele Eltern nun bereit fanden, sich von ihren Kindern zu trennen. Ein Ansturm auf ausländische Konsulate und die Beratungsstellen der Hilfsorganisationen setzte ein. Bevorzugtes Einwanderungsland wurde England, nachdem die britische Regierung am 23. November 1938 der Aufnahme von bis zu zehntausend Kindern zugestimmt hatte. Geplant war, vorerst fünftausend Kinder in kleineren Gruppen aufzunehmen, sie zunächst in Sommerferienlagern unterzubringen und durch Aufrufe Gastfamilien für sie zu suchen.
Innerhalb der jüdischen Gemeinden sprach sich diese Nachricht schnell herum. Zudem sprachen jüdische Lehrer gezielt ihre Schüler an und drängten sie zu emigrieren. Die ersten Kindertransporte kamen wohl vielerorts durch schnelle Entscheidungen zustande – trotz der umfassenden bürokratischen Maßnahmen: Fragebögen waren auszufüllen und Unterlagen einzureichen. Die Eltern mussten unterschreiben, dass sie dem Refugee Children’s Movement, der zuständigen und überkonfessionellen Hilfsorganisation in England, die Verantwortung für ihr Kind übertrugen. Nicht zugesichert werden konnten die Unterbringung in einem Haushalt mit derselben Konfession sowie langer Schulbesuch und eine Berufsausbildung. Dagegen wurde ein einvernehmliches Verhältnis zwischen Eltern und Pflegeeltern angestrebt, so dass die Eltern auf die Kinder nach wie vor Einfluss haben konnten.

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